In der Nacht zum 1. Weihnachtsfeiertag hatte unser Schiff knapp 100 Kilometer zurückgelegt und ungefähr in der Mitte auf der Strecke nach Assuan am Ufer des kleinen Städtchens Edfu angelegt. Aus gutem Grund, denn dort steht mit dem Horus-Tempel der heute am besten erhaltene Tempel Ägyptens, den sich Merlin und ich anschauen wollten.
Wenn man Merlin am Ende der Reise gefragt hätte, was das Aufregendste und Abenteuerlichste der ganzen Reise war, hätte er vermutlich ohne Zögern geantwortet: „Die Kutschfahrt zum Horus-Tempel!“ Und die hatte es wahrlich in sich, denn der Kutscher lenkte das Zweiergespann durch den chaotischen Verkehr einer arabischen Stadt – unsere Stute Monica war zwar (wie alle anderen Pferde auch) auf dem ersten Blick ein abgemagerter Klepper, auf dem, was man hier Straße nennt, war sie aber erstaunlich schnell unterwegs.
Wir kamen jedenfalls heil an, passierten dann die obligatorische Basar-Straße und standen schließlich staunend vor dem imposanten Tempel, dessen monumentales, 50 Meter breites Tor (auch Pylon genannt) 36 Meter in den Himmel ragt. Am Tor sind Szenen von Massakern an den Feinden Ägyptens und Darstellungen des Falkengottes Horus zu sehen.
Kleiner Exkurs: Horus stammt vom Totengott Osiris und dessen Schwester Isis ab. Seine Gattin war Hathor von Dendera, mit der er einen Sohn hatte, Harsomtus. Die alten Ägypter sahen Horus als den Vater des jeweilig herrschenden Königs an. Daher wurden die Horus-Namen auch symbolisch im Namen der Pharaonen geführt, die sie zu Beginn ihrer Regierungszeit erhielten.
Links und rechts des Eingangstores stehen zwei Falkenstatuen des Horus, die mit der Krone des vereinten Ägyptens, dem Pschent, gekrönt sind. Der Pschent repräsentierte die Vereinigung von Ober- und Unterägypten. Indem sie diese zweiteilige Krone trugen, die Horus trug (siehe Bild unten), bestätigten seine Priester, dass ganz Ägypten unter dem Schutz des Falkengottes stand: Dem Land konnte nichts passieren!
Hinter dem Pylon gelangten wir zu einem riesigen Hof, der von zwei Säulenreihen umgeben ist. Nicht nur hier erläuterte uns Ashrav kundig die Wandmalereien und Hieroglyphen, die über Horus‘ Heldentaten in seinen Kämpfen gegen Set erzählen. Jener hatte nämlich seinen Bruder Osiris getötet, der ja der Vater von Horus war. Und der wollte: Rache!
Anschließend wanderten Merlin und ich – erst mit der Gruppe, dann allein – zuerst in einen großen und dann in einen kleinen Hypostylraum, – sie stellen die Welt dar, wie sie vor dem Erscheinen des Schöpfergottes Ra war, der in den altägyptischen Legenden dann die Erde und alles um sie herum aus dem Nichts formte. Nach weiteren Räumen, die unterschiedlichen Göttern gewidmet sind, erreichten wir schließlich im Zentrum des Tempels den Schrein (Naos), der die „sonnenhafte Himmelsbarke“ des Horus enthält.
Zurück vom Tempel fanden wir – wider Erwarten – im Tohuwabohu des Pferde-Parkplatzes „unsere“ Monica“ samt Kutscher und machten uns zufrieden auf zu unserem Schiff. Den Nachmittag verbrachten wir mit der Nilfahrt bis nach Assuan, wo wir dann auch die Nacht verbrachten.