Ich bin einerseits gerne allein und andererseits ein höflicher Mensch. Ich mag oft keine Leute und bin zwischendurch gerne in Gesellschaft. Ich brauche häufig meine Ruhe – und hin und wieder Ansprache.
Wäre ich nicht schon genug geschlagen, dass sich mein komplettes Leben in diesen und noch viel mehr Gegensätzen abarbeitet, kröne ich mein tägliches Dilemma mit einer ganz miesen Menschenkenntnis, die offensichtlich nur ich besitze. Alle anderen, die ich kenne, rühmen sich damit genau diese zu besitzen, was mir wiederum bei den vielen ungefragten Analysen meines Charakters meist große Überraschungen beschert … aber das ist eine andere Geschichte.
Heute geht es darum, dass ich die Beschreibung aus den ersten Zeilen dieses Textes mittlerweile im Alltag ganz gut in den Griff bekomme. Eigene vier Wände helfen dabei, ein gemütlich ausgestattetes Homeoffice ebenfalls. Ich gehe unter Leute, wenn mir danach ist – und ich gehe ihnen aus dem Weg, wenn mir danach ist.
Kommen wir also zum Kern dieses Textes, was diesmal etwas länger dauert, weil ich mir im Gegensatz zum Alltag im Urlaubs-Modus gerne Zeit lasse und ein Faible für Umwege habe. Genau, ich schreibe gerade über meine Urlaube oder genauer: Über Kontakte knüpfen im Urlaub – eine Frage, die sich den „Beliebten“ der Spezies Mensch nicht stellt, weil es quasi von selbst passiert.
Mich dagegen spricht keiner einfach an, nicht mal im Urlaub. Und wenn es einer tut, dann ist es immer der größte Depp und nervigste Idiot im Hotel, den ich erst nicht loswerde und dann sehr unhöflich in seine Schranken weisen muss. Das wiederum verleidet mir die Tage, weil ich eigentlich ein sehr netter und sensibler Mensch bin.
Seitdem meine Jungs groß sind und der Familienurlaub nur noch eine sentimentale Erinnerung ist, muss ich wegen des Nachwuchses wenigstens keine anderen Eltern kennenlernen und keine pädagogisch wertvolle Urlaubsbekanntschaften mehr knüpfen.
Da ich allerdings nicht den ganzen Tag auf dem Hotelzimmer verbringen mag, ich ferner das angebotene Spaßprogramm in All-inklusive-Anlagen verweigere und meine Frau noch nicht von einem Urlaub im Zen-Kloster überzeugen kann, stellt sich die Frage: Wo also knüpft der unleidige Einsiedler-Krebs im Urlaub die ihm passenden Kontakte?
Meine erste Idee: Einen anderen Strandwanderer beim eigenen morgendlichen Spaziergang am Meer ansprechen. Allerdings läuft er sicher genau aus dem gleichen Grund wie ich durch den Sand – und will in seinem Tempo dem Rauschen der Wellen lauschen und den Wind im Gesicht spüren UND seine Ruhe haben. Das tiefe gegenseitige Verständnis der ewigen Natur verträgt maximal ein lächelndes Nicken, wenn man dem anderen begegnet. Mehr nicht.
Pool, Fitnessbereich und Bar sind aus unterschiedlichen Gründen ebenfalls für mich keine Kontaktanbahnungsorte, weil ich am Rande des einen meist schlafe, in den anderen erst gar nicht gehe und vom dritten mich gerne die Mutter meiner Söhne wegzieht. Da die Sühne daheim geblieben sind, hat sie jetzt mehr Zeit auf mich aufzupassen, was mit Blick auf die Bar und meine Leber wohl sehr gut für mich ist.
Bleibt also der in der Urlaubssonne zunehmend rot werdende Krebs gänzlich ohne nette, neue Bekanntschaft (die er selbstverständlich nach den Ferien wieder vergisst)? Keineswegs, denn er findet endlich einen oder zwei Gleichgesinnte am Abendbuffet all inklusive, wobei ich konkretisieren muss: Beim Dessert!
Hier trennt sich das Spreu vom Weizen: Im ersten Schritt lösche ich bereits all jene von meiner imaginären Kontaktliste, die auf den Nachtisch verzichten. Wer im Urlaub Diät hält oder generell nichts Süßes mag, lässt die Genussfähigkeit vermissen, die mir so wichtig ist. Das gilt auch für diejenigen, die zum Abschluss dem Obst den Vorzug geben. Sie greifen bereits beim Frühstück lieber zum Bircher Müsli als zu Eiern mit Speck, was generell nicht verwerflich (oder schon ein bisschen 😉) ist. Doch sind die Gesundheitsbewussten in den allermeisten Fällen auch Missionare, die mir die Lust an Kalorien und Zucker madig machen wollen. Und das im Urlaub.
Und dann endlich steht er da: Etwas käsig im Hautton, leicht untersetzt, häufig mit Brille, ganz selten mit dichtem wallendem Haar. Prüfend studiert er das Potpourri der Desserts, die von Vanille-Pudding, Kaiserschmarrn und Tiramisu über Profiterols, Eiscreme, Crema Catalana und Pannacotta bis zu Baklava, Bayerischer Creme, Schokoladenmousse und etwas Quietschbuntes unbekannter Konsistenz und Herkunft reichen.
Er hatte sie schon alle. Er überlegt nur die beste Reihenfolge, in der er die Köstlichkeiten heute verzehren will. Sein Fachwissen und seine Erfahrung statten ihn auf diesem kaum einen Quadratmeter fassenden Platz vor dem Dessert-Buffet mit einem Selbstbewusstsein aus, das er sonst nicht besitzt. Mögen die anderen über ihn lästern, nur er kennt das tiefgreifende Glück, das ein gelungener Nachtisch schenkt.
Und dann blickt er auf und sieht mich. Wir „schauen“ uns in fast biblischem Sinne – und noch bevor wir das erste Wort (über Desserts freilich) wechseln, weiß ich, ich bleibe auch in diesem Urlaub nicht allein.
Denn es gibt sie, mit denen ich im Urlaub gerne Kontakt pflege. Es sind nicht viele. Man muss sie nur finden … beim Dessert.
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