Gerade habe ich einen Beitrag (diesmal auf Linkedin) von einem Mann gelesen, der mit Ratgebern gedruckt, online und als Schulung sein Geld verdient. Er schrieb von intensiven, wertschätzenden und wertvollen Gesprächen, von begeisterten Workshop-Teilnehmer*innen und von der eigenen Entscheidung, dass er heute keine Energie mehr zum Arbeiten (also weitere Ratgeber verfassen) habe und deshalb mit dem Hund spazieren gehe.
Selbstverständlich wurde der Text von einem Foto garniert, in dem besagter Coach & Ratgeber braungebrannt in lässigem Edel-Outfit seinen Golden Retriever durch leuchtend-gelbe Weizenfelder führte, mit der rechten Hand den Halm am Wegesrand gedankenverloren biegend.
Verdiente Auszeit, die arme Seele baumeln lassen, weniger ist mehr, Zeit für die wirklich wichtigen Dinge nehmen, wertvolle Ich-Zeit und Work-Life-Balance – der prächtig anzusehende Müßiggänger auf Zeit reihte Floskel an Floskel, für jede gab es begeistere Kommentare und die unvermeidlichen „Likes“, die zeigten, wie sehr er den Nerv seiner Anhänger einmal mehr traf.
Kein Zweifel: Der Ratgeber verdient mit seinen Ratschlägen jede Menge Geld, wie seit den späten Siebzigern unzählige seiner Kolleginnen und Kollegen den Weg in die Zukunft wiesen und weisen, in der nur der Wandel das einzig beständige sein soll.
Mein Vater ging noch „normal“ zur Schule, seine letzte schloss er mit der Meisterprüfung ab. Ich dagegen sitze seit Jahrzehnten (ja, so alt bin ich schon) vor allem in Schulungen, die mir dabei helfen, jeden Aspekt meines privaten, gesellschaftlichen und beruflichen Lebens zu bewältigen. Idealerweise mit einem Lächeln … und vielleicht sogar zwischendurch mit einem Spaziergang samt Hund durch Weizenfelder.
Ich bin die Zielgruppe von Coaches, Trainern, Referenten und Ratgebern, die mir helfen. Punkt. Und ich bin nicht allein, im Gegenteil: Ich kenne kaum einen Menschen jenseits der ersten Sprosse auf der Karriereleiter, der nicht mindestens ein Coaching auf seiner Haben-Seite vorweisen kann.
Kaum verwunderlich liegt deshalb die Vermutung nahe, dass ohne Berater und Mental-Couch eine Führungsposition in einem Unternehmen gar nicht mehr möglich ist. Es machen schließlich alle Manager und solche, die es gerne werden möchten. Der externe Blick, die andere Perspektive – die Versuchung ist groß, die Verantwortung des Nachdenkens, der Prüfens und der Reflexion an andere abzugeben, zumal sich ein Training auch sehr gut im Lebenslauf liest.
UND DENNOCH: In mir keimt seit geraumer Zeit der unangenehme Verdacht, dass der allseits penetrierende Coaching-Hype zuallererst Beschäftigungstherapie ist. Und ich komme immer mehr zur Überzeugung, dass diejenigen, die sich entwickeln (beruflich wie persönlich) dies auch ganz gut ohne Berater geschafft hätten.
Ich weiß, das ist sehr einfach, zu einfach gedacht, aber ich sehe so viele Menschen, die regelmäßig gecoacht werden und nicht aus ihrem Hamsterrad herausspringen können. Ich sehe Manger, die gegen ihrer Natur auf Menschenfreund machen und daran scheitern. Ich sehe bekannte Frauen und Männer, die sich hehre Motivationssprüche und Lebensweisheiten aufs Panier gemalt haben und offensichtlich nicht gelesen haben. Ich sehe Trainer, die seit einem Jahr ihren Weg zur Erfüllung beschreiben und nach zwölf Monaten keinen Zentimeter weiter sind. Ich sehe digitale Zukunft-Gurus, die mir die Alleinseligmachung des Fortschritts vorgaukeln.
Ich sehe sicher nicht mehr erfüllte, zufriedene, glückliche und erfolgreiche Menschen als vor zehn, 20 oder 30 Jahren. Im Gegenteil. Dass es nicht noch weniger sind, könnte natürlich auch an der Arbeit der Coaches, Berater und Ratgeber liegen. Genau so gut könnten sie aber auch die Ursache dafür sein, dass es nicht mehr sind (Versprechungen sind manchmal ausgesprochen kontraproduktiv).
Es könnte aber auch sein, dass es völlig egal ist. Also das Coaching.
Ich werde darüber nachdenken, vielleicht bei einem Spaziergang im Weizenfeld.
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