Die Glocke und der Gockel

In einem Dorf hing an einem dicken Seil eine große, herrlich anzuschauende Glocke, die ein sehr friedliches Leben führte. Pünktlich läutete sie zur halben und zur vollen Stunde und bestimmte so die Tage der Dorfbewohner. Vor dem Gottesdienst kündigte ihr Läuten den Menschen an, dass sie ihr besten Gewand anziehen sollten, zur Wandlung diente ihr Läuten all jenen als Mahnung, die nicht in der Kirche waren.

Eines Tages aber kaufte der reichste Bauer des Dorfs einen stolzen Gockel. Und für den war es sehr wichtig, dass nicht nur die Hennen, sondern auch die Menschen auf ihn hörten. Und dass eine Glocke frühmorgens die Menschen weckte, war etwas, das er nicht akzeptierte.

Der Gockel überlegte nicht lange und bereits eine Woche nach seiner Ankunft auf dem Bauernhof ließ er bei Tagesanbruch – genau fünf Minuten früher, als die Glocke läutete – ein lautes „Kikeriki“ durch das gesamte Dorf erschallen. Manch einer der Dorfbewohner wunderte sich, dass sie an diesem Morgen durch ein Krähen aufgeweckt wurden, dass es fünf Minuten früher als sonst war, fiel allerdings keinem auf. Nicht einmal den Kühen, die darauf warteten. gemolken zu werden.

Die Glocke konnte sich das selbstverständlich nicht gefallen lassen. Sie war deshalb am nächsten Morgen zeitiger auf als sonst und läutete zehn Minuten früher als üblich, so dass die Dorfbewohner wieder von ihr geweckt wurden.

Nun, da der Gockel sehr eitel und die Glocke sehr stur waren, nahm das Drama seinen Lauf. Jeden Morgen beeilte sich der eine, dem anderen mit dem Weckruf um fünf Minuten zuvor zu kommen, als die Menschen schließlich um Mitternacht zum Tag gerufen wurden, hatten sie genug: Der Gockel kam in einen Käfig, die Glocke wurde abgebunden und ihr Klöppel entfernt. Und beide wurden in der Scheune abgestellt.

Und jetzt? Die beiden langweilten sich unsäglich. Natürlich würdigten sie sich anfangs keines Blickes und sprachen auch kein Wort miteinander, bis dem Gockel der Geduldsfaden riss. „Hey, Glocke, ist dir auch so langweilig? Tun können wir hier nichts, aber wir könnten uns zur Abwechslung etwas erzählen. Hast Du zufällig eine Geschichte für mich?“

Was der Gockel nicht wusste: Die Glocke war eine große Geschichten-Erzählerin, die sich zwischen den Glockenläuten unzählige Abenteuer ausgedacht hatte. Und sie begann mit mutigen Seefahrern und fürchterlichen Piraten, erzählte von fremden Ländern mit komischen Tieren und erfand für die Berge im tiefen Meer Fantasie-Farben, die es gar nicht gab. Der Gockel war begeistert und wollte natürlich nicht nachstehen, denn auch her kannte viele Geschichten, die meistens von gefiederten Helden und ihren ruhmreichen Taten erzählten.

Die beiden stachelten sich gegenseitig an, erfanden immer mehr bunte Geschichten, die man nicht nur hören, sondern auch sehen, riechen, schmecken und fühlen konnte, wenn man die Augen schloss. Immer mehr Tiere kamen in den Stall, um den Geschichten zu lauschen, so dass der geschäftstüchtige Esel sogar meinte: „Ich mache euch beide berühmt“. Das allerdings war dem Gockel und der Glocke herzlich egal, denn ihnen genügte, sich Geschichten auszudenken und dabei einen echten Freund gefunden zu haben.

Manchmal ist es gut, wenn man gezwungen wird, etwas Neues zu versuchen. Und ist es auch nur, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen.

Bild von StarbuckATC auf Pixabay

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