Das Klagelied des Dicken

Ich bin nicht völlig dumm und weiß sehr gut, dass es schlankere und durchtrainiertere Menschen als mich gibt. Außerdem kenne ich den Jo-Jo-Effekt aus persönlicher Erfahrung am und mit dem eigenen Leibe nur zu gut. Und trotzdem: Als ich kürzlich für eine Recherche einen Facharzt für Adipositas (krankhaftes Übergewicht) interviewte, trafen mich sein kurzer Blick und ein flüchtig dahingesagter Nebensatz bis ins Mark …

… oder sollte ich besser sagen: Tief in die wabbelnde Fettschicht meines stattlichen Bauchs. Besagter Facharzt, den ich ursprünglich mochte, jetzt aber nicht mehr, meinte nämlich, ich wäre ein potenzieller Patient – eine nähere Untersuchung würde seiner Meinung nach ergeben, ob ich schon über oder gerade noch kurz vor dem BMI (Body-Mass-Index) von 30 wäre.

Ich und zu dick? Hatte die blöde Wii-Konsole mit Balance-Board also doch recht, als sie beim Trainingsprogramm „Fit Plus“ meines Avatars zwischen „übergewichtig“ und „fettleibig“ pendelte? Und logen mich im Gegensatz dazu all die wohlmeinenden Freunde und Bekannten schamlos an, wenn sie meine Selbstzweifel mit einem „Bei deiner Größe kannst du ein paar Kilo mehr schon vertragen.“ zu beschwichtigen versuchten?

Schon meine Oma meinte vor mehr als einem halben Jahrhundert, dass ich fleißig essen solle und nicht auf den dritten Nachschlag ihres eh schon üppigen Essens nicht verzichten dürfe, damit ich einmal „groß und stark“ werde. Knapp zwei Meter groß bin ich tatsächlich geworden, aber das „stark“ manifestierte zu dem, was der Bayer gerne „fest“ oder „kräftig“ nennt, aber mit Kraft leider wenig zu tun hat. Nebenbei stand bereits in meinem Zeugnis der 4. Klasse, dass der „korpulente Bernhard“… an den Rest erinnere ich mich nicht mehr.

Dicke neigen zum Selbstbetrug, auch das ist mir bekannt. Da ich aber nicht richtig dick bin, muss ich mich auch nicht selbst belügen. Ich habe nun mal sehr schwere Knochen, und dass ich meine Haare länger trage, tut auch etwas dazu. Also zum Gewicht, dass die Waage anzeigt. Ebenso die Unterhose, die ich beim Wiegen trage und die locker mit mindestens zwei Kilogramm zu Buche schlägt.

Vor den Spiegel stelle ich mich nur frontal. Aus gutem Grund, denn seitlich würde man neben meinem stattlichen Bauch auch die Brüste erkennen, die inzwischen wohl einen BH mit Körbchengröße B oder gar C füllen würden. Das sieht bei einem Mann nicht gut aus. Zumal ich manchmal morgens mit meinen Söhnen verschlafen für die erste Wäsche vor dem Spiegel stehe. Der 20jährige ist schlank ohne Gramm Fett, der 17jährige hat sich im Fitness-Studio eine V-Figur und ein Sixpack antrainiert. Ich zwischen den beiden Jungs, auch das sieht nicht gut aus.

Ich bin genetisch vorbelastet, das ist es. Mein Papa war zwar grundsätzlich dürr mit einer im Alter imposanten Bier-Wampe, meine Mama aber brachte bei 1,70 Meter locker über 100 Kilogramm auf die Waage. Sie war nicht glücklich damit, aber sie aß sehr, sehr gerne, was ihre regelmäßigen Versuche aller möglichen Diäten schnell wieder zunichtemachte. Mir geht es ähnlich – und wie meine Mama muss ich ein Schnitzel nur anschauen, um zwei Kilo zuzulegen.

Bis auf die eine oder andere gesundheitliche Beschwerde und Einschränkungen in der Beweglichkeit, für die man selbst Verantwortung trägt, ist das Leben eines Dicken so schlecht nicht. Eine rechte Völlerei kann die Genussfähigkeit trainieren, Kochen und Essen jenseits asketischer Geißeleien ist zumindest ein sehr schmackhafter Weg eines prallen Lebens.

Das Problem sind vielmehr die Schlanken (nicht nur der besagte Facharzt), die einen nicht in Ruhe lassen wollen. Die dich voller Mitleid anlächeln, die ohne jegliche Sensibilität die „100 Gramm zu viel beklagen“, die für Uneingeweihte nicht sichtbar in ihrer Hüfte einlagern.

Es sind die vielen Fitness-Coaches, deren Tipps die Sozialen Medien überfluten, und es sind die vielen Gesundheits-Gurus, die dich mit der einzigen ultimativen Lösung gegen das Bauchfett belästigen. So herrlich vital, so voller Kraft und Energie, stets mit schneeweißen Zähnen breit lächelnd.

Mein Leben wäre traurig und tragisch zugleich … und dann erinnere ich mich an die üppige Bekannte von einst, der man so gerne beim Essen zusah, wenn sie inmitten ihrer Salat-stochernden Freundinnen herzhaft in ein Steak biss. Die wie ein Derwisch tanzte und die vollen Hüften im Takte schwang, während die Dürren krampfhaft darauf achtgaben, den angeblichen Schein der Eleganz zu wahren. Und die mir schließlich grinsend verriet: „Wenn du das Licht ausmachst, fühlen sich meine weichen Rundungen viel besser an als die harten, eckigen und spitzen Knochengerippe der Schlanken.“ Genau das habe ich kürzlich auch meiner Frau gesagt, die darauf nur lakonisch meinte: „Machst du dir schon wieder was vor?“

Die Wahrheit liegt wohl auch hier irgendwo in der Mitte.

Bild von Willgard Krause auf Pixabay

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