Einen Kongress, Workshop oder eine Tagung zum wiederholten Mal zu besuchen, ist leicht. Ebenso wie die Teilnahme an solch einer Veranstaltung, wenn man bereits einige Teilnehmer, idealerweise sogar Teilnehmerinnen (Frauen sind definitiv fürsorglicher) kennt. Anders allerdings gestaltet sich die unbedarfte Premiere auf einer Tagung – und noch schlimmer, wenn man der einzige ohne bereits vorhandene Kontakte ist.
Deshalb der entscheidende Tipp vorab: Wenn dich deine Firma auf eine Tagung schickt, nimm den Kollegen mit. Zur Warnung soll folgender Erlebnisbericht dienen.
„Eigentlich bin ich ein kommunikatives Kerlchen, der bei Hochzeitseinladungen immer der Letzte ist, dem das Brautpaar bei den umfassenden Vorplanungen den Tisch zuweist. Warum? Weil am Schluss immer ein paar Gäste übrigbleiben, die zu keinem passen. Neben sie platziert man den vorlauten Krebs. Das wiederum passt.
Anders bei meiner ersten Tagung. Rund 30 Expertinnen und Experten sollten über irgendetwas Innovatives und Nachhaltiges reden und sich Vorträge dazu anhören. Die Agenda sah zudem diverse Workshops vor, damit man dem Chef zuhause erzählen kann, man hätte etwas getan (und sich nicht nur über die Pausen-Häppchen hergemacht). Es hörte sich selbst für einen tief misstrauischen Menschen wie mich gar nicht so schlecht an … bis ich durch die Tür zum Tagungsraum trat.
Nie fühlt man Einsamkeit so schwer wie unter Menschen. Ich hatte den Spruch mal in einer billigen Sammlung von noch billigeren Lebensweisheiten gelesen und wusste nach wenigen Minuten: Er stimmt. Denn bereits der erste Blick auf die bereits anwesenden Tagungsteilnehmer erinnerte mich an den verschworenen Geheimbund der Freimaurer, von dem ich als Jugendlicher in Abenteurerromanen gelesen hatte. Nur dass die moderne Tagungsvariante geschlechterübergreifend als Uniform blaue Anzüge zu braunen Schuhen und Gürtel trug – provokant ohne Krawatte, weil man es gerne etwas legerer mag.
Ohne Zweifel, man kannte sich. Zwischen den einzelnen Grüppchen sorgte ein ständiges „hin und her“ für exzessives Netzwerken unter Gleichgesinnten, jemandem wie mir begegnete man mit abschätziger Höflichkeit und nonchalantem Desinteresse. „Du gehörst hier nicht dazu“ war das immer unterschwellige und manchmal sehr deutliche Signal, das mich an den Rand des Raumes drängte. Dort stand ich wie ein Depp – bis endlich die „Zirkusdirektorin“ mich bei der Hand nahm, um mich den anderen Menschen vorzustellen.
Nebenbei: Die „Zirkusdirektorin“ ist die charmante Gastgeberin vieler Veranstaltungen, die ihre Hauptaufgabe darin sieht, Leute zusammenzubringen. Ohne sie gäbe es viele Karrieren nicht, ohne sie wäre manche Kooperation nie zustande gekommen. In der Regel ist sie wohlhabend (es geht ihr selbst nicht ums Geschäft), von herzlicher Energie durchströmt, verfügt über beste Kontakte in Wirtschaft, Politik und Kunst – und sie ist wohltätig engagiert.
Jedenfalls machte die Gastgeberin, in diesem Fall Moderatorin der Tagung, mich erst mit Frau K. und dann mit Herrn L. bekannt. Dumm nur, dass sie kurz darauf wieder entschwand, die Themen mit K. und L. bereits nach wenigen Minuten abgehandelt waren – und ich plötzlich wieder allein herumstand. Abgesehen von den Zeiten, in denen die Agenda abgearbeitet wurde, änderte sich daran auch in den Pausen nichts. Ich war allein und blieb allein!
Exkurs: Eine Sonderperspektive der bereits genannten Beobachtungen erhält man als Dienstleister bei Tagungen, Kongressen, aber auch bei Jubiläen und Hochzeitsfeierlichkeiten. Aus eigener Erfahrung als externer Fotograf oder PR-Berater kenne ich die Hauptbeschäftigung bei solchen Veranstaltungen: Ich stehe herum und beobachte.
Man fühlt sich unwohl und ungeliebt, auch deshalb, weil der nette Auftraggeber, mit dem man zu zweit manch Glas Wein geleert hatte, in dieser Umgebung wenig Interesse an dir hat. Im Gegenteil. An den Tischen ist kein Platz frei, auch die anderen bekannten Gesichter stufen dich plötzlich zum Lakaien herab und gewähren dir selten mehr als ein Nicken. Ich tröste mich derweil damit, dass es ein Job ist und ich gut dafür bezahlt werde.
Es ist peinlich, wenn man nicht sofort als „Beiwerk“ erkannt wird und von anderen Gästen angesprochen wird – in deren irrigen Annahme, dass man dazu gehört. Mindestens ebenso unangenehm ist das Los des Fotografen, der gerade von medienscheuen Menschen als reale Gefährdung der eigenen Persönlichkeitsrechte wahrgenommen wird. „Was machen Sie da?“ ist keine neugierige Frage, sondern ein unverhohlen aggressiver Vorwurf.
Wie dankbar ist man jetzt über die Service-Mitarbeiter, den Musiker, den Mann vom Gockerl-Wagen oder Pizza-Grill (bei Outdoor-Events): Man freut sich über jeden anderen, der auch mal allein herumsteht und ohne Dienstleistung eigentlich nicht dazu gehören würde. Allein: Die temporären Schwestern und Brüder im Geiste sind meist im Dienst.
Es bleibt also nur, so zu tun, als wäre man ebenfalls schwer beschäftigt: Wie viele Seiten habe ich auf solchen Veranstaltungen schon mit Kritzeleien gefüllt – nur für die Anmutung, als würde ich gerade tiefe Erkenntnisse und Beobachtungen niederschreiben.
Nach dem heiklen „Warm-Up“ waren die folgenden Stunden relativ entspannt, denn bei Vorträgen ist jeder für sich allein und darf angesichts der so oft langweiligen Ausführungen des Referenten in Ruhe tagträumen. Prekär wurde es wieder in der Mittagspause, als alle zum Buffet eilten. Da ich zuweilen (oder auch häufiger) eher orientierungslos als geplant agiere, scheiterte ich bereits bei der Frage, an welchem Ende ich mich anstelle, wo das Besteck und die Gewürze zu finden sind … und einmal mehr erfuhr ich: man kann so viel falsch machen.
Ohne eigenes Zutun entfalteten sich anschließend bei der Tischwahl zur Nahrungsaufnahme plötzlich zwei Schreckensszenarien in Folge: Zuerst stellte ich, blöde schauend, vor einem Tisch fest, dass bereits alle Plätze besetzt waren – an dem freien Tisch, an den ich mich dann setzte, blieb ich den Rest der Mittagspause allein. Ich kam mir vor wie in einem der Gefängnisfilme, in dem der Neue ebenfalls ganz allein bleibt, glücklicherweise kam bei mir kein Bully vorbei, der mich hauen oder alternativ vernaschen wollte.
Mein erster Tag auf meiner ersten Tagung war keine Erfolgsgeschichte – und sollte es auch nicht mehr werden. Besonders armselig erlebte ich die nachmittägliche Kaffeepause. Ich bekam nebenbei mit, dass sich alle anderen am Abend zum „Zug durch die Stadt“ treffen wollten.
Ich wurde nicht gefragt. Die Frage, ob es daran lag, dass ich einfach vergessen wurde, oder daran, dass man mich ungern dabei hatte, trieb mich noch viele Wochen um … bis zur nächsten Tagung, bei der ich mit vielen Kollegen aufschlug.
An jenem Abend aber kam ich zumindest früh ins Bett.“