In ganz Peru gab es keinen wie ihn. In Chile und Bolivien auch nicht – und in Argentinien schon gar nicht. Konrad war kein normaler Vogel. Er war nicht einmal ein normaler Kondor. Er war der Urvater aller Kondore und damit der allergrößte und mächtigste Vogel, der jemals über die hohen Berge der südamerikanischen Anden geflogen ist. Mit Flügeln, die von einem Ende zum anderen ganze vier Meter maßen, überflog Konrad die gesamte Gebirgskette von Norden nach Süden und von Osten nach Westen an nur einem einzigen Tag.Keiner flog so hoch wie er, keiner sah über viele Kilometer hinweg so scharf wie er.
Und weil Konrad auch noch sehr schnell und sehr stark war, passte er auf alle Tiere in den Anden auf. Er war ihr Hüter hoch oben in den Wolken, der sie warnte, wenn ein Sturm heraufzog oder ein Jäger sich hinter dem Felsen versteckte. Der Kondor wusste, wann Lawinen von den Gebirgshängen stürzten – und er beschützte die jungen Kaninchen, wenn sie beim Spielen zu nah an den Abgrund gerieten. Ganz klar: Jeder hatte großen Respekt vor Konrad, jeder mochte ihn.
In diesen frühen Zeiten, als die Anden-Welt noch in Ordnung war, galt Konrad außerdem als der schönste aller Vögel. Es leuchteten nicht nur die schwarz-glänzenden Flügelfedern in der untergehenden Sonne, er hatte auch prächtige und bunte Federn am Kopf. Die Anführer der in verschiedensten Indianerstämme sollten den wunderbaren Kopfputz später zum Vorbild für ihren eigenen Häuptlingsschmuck nehmen.
Konrad musste wie alle Kondore nur selten trinken. Und wenn er doch einmal Durst hatte, dann nahm er einige wenige Schlucke aus einem kleinen Rinnsal ganz in der Nähe seines Horstes. Eines Tages jedoch, kurz nachdem er drei Berglöwen von einer Wiese mit Lamas verjagt hatte, überkam ihn während des Flugs der Durst und er landete an einem großen Anden-See. Er senkte den Kopf um zu trinken – und sah zum ersten Mal in seinem Leben sein Spiegelbild.
„Wie schön ich doch bin! Wie hübsch doch meine Kopffedern sind!“ Der Kondor war so begeistert von seinem Spiegelbild, dass er sich gar nicht mehr davon losreißen mochte. Stundenlang staunte er über seine Pracht, tagelang freute er sich über jedes bunte Detail seines Federschmucks. Natürlich hatte dies unweigerlich zur Folge, dass Konrad seinen Aufgaben als Beschützer der Anden nicht mehr nachkam – und selbst wenn er einmal zu einem kurzen Flug aufbrach, war es mit dem Helfen nicht mehr weit her. Er musste schließlich achtgeben, dass seine Federn nicht zu Schaden kamen.
So konnte es nicht weiter gehen! Die Tiere der Anden beriefen eilig ein Krisentreffen ein, an dem Konrad jedoch nicht teilnehmen wollte. Zu beschäftigt war er damit, sein Spiegelbild im See zu bestaunen und zu bewundern. Lange Zeit überlegten die Tiere, spannen eine Idee um die andere und warfen sie wieder weg. Bis das Murmeltier, das sonst nie etwas sagte, sondern nur den lieben, langen Tag vor sich hin pfiff, meinte: „Schicken wir den großen Kondor doch zum Frisör, damit sein Kopfschmuck noch schöner werde.“
Noch bevor die anderen Tiere sich lauthals über diese blöde Idee beschweren konnten, grinste das Murmeltier: „Schicken wir Konrad am besten zu Jeanette, der Lama-Dame.“ Nun, es stimmte schon, dass Jeanette die Haare bzw. Federn der Tiere schnitt, sie war aber auch blind wie ein Maulwurf und die mit Abstand schlechteste Frisörin der Anden. Und als das Murmeltier den skeptischen Tieren seinen Plan erklärte, waren alle hellauf begeistert.
Es war gar nicht so schwer, Konrad zum Frisörbesuch zu überreden. Es genügten zwei, drei Schmeicheleien und schon saß der stolze Kondor bei Jeanette auf dem Frisörstuhl. Und das Lama machte wenig Federlesens und rasierte mit dem Spruch „So ein Charakterkopf braucht doch Platz“ die Federn einfach ab. Der Kondor war entsetzt, aber es war schon zu spät. Denn Jeanette hatte ganze Arbeit geleistet und sogar die Wurzeln der Federn entfernt, so dass sie auch garantiert nicht mehr nachwachsen würden.
Gerade, als sich Konrad vor Scham in eine dunkle Höhle verkriechen wollte, rief ein kleiner Bergtapir laut um Hilfe. Ein riesiger Andenbär hatte ihn als Mittageessen eingeplant, nur noch wenige Meter trennten die beiden voneinander. Schnell stieg der Kondor in die Luft, stürzte hinab, ergriff mit seinen gewaltigen Fängen den Bergtapir und brachte ihn mit gewaltigen Flüelschlägen in Sicherheit. Kaum hatte er seinen Schützling abgesetzt, sah er ein Riesengürteltier, das auf einen Bergabsatz gestürzt war und weder hinunter noch hinauf kam.
Auch dieser seltsame Genosse wurde von Konrad gerettet, ebenso wie noch viele andere Tiere an diesem Tag, in der folgenden Woche, die nächsten Monate und Jahre – der Kondor war wieder in seinem Element und wurde im Laufe seines Lebens eine richtige Berühmtheit, zu der alle anderen Tiere aufschauten.
Es versteht sich von selbst, dass alle anderen Kondore so werden wollten wie Konrad – und deshalb auch zu Jeanette gingen, um sich von ihr den Kopf scheren bzw. abzupfen zu lassen. Manche behaupten sogar, dass Jeanette berühmter als Konrad wurde. In jedem Fall stand die Zahl ihrer Kunden in nichts der Zahl der Tiere nach, die vom Konrad gerettet wurden. Den beiden war das egal, denn sie wurden schnell die dicksten Freunde.
Apropos dick: Das Murmeltier gehörte natürlich auch dazu. Und abends, wenn Konrad über die Anden schwebte und Jeanette zum Feierabend ein wenig vor sich hin spukte, pfiff das Murmeltier dazu.