Ich fühle mich nackt. Ich gehe über die Straße, stehe an der Bushaltestelle … und fühle mich nackt. Ich eile zum Meeting, sitze am Schreibtisch … und fühle mich nackt.
Splitterfasernackt.
Keine Sorge, ich habe nicht vergessen, mir heute Morgen Unterwäsche, Socken, Hemd und Hose anzuziehen. ABER: Ich habe keinen COFFEE TO GO bei mir. Ich bin der einzige, der das nicht hat. Nun gut, ein paar haben auch keinen Instant-Kaffeebecher bei sich – dafür nuckeln sie an überdimensionalen Trinkflachen mit extraordinären Einfüllstutzen, die sie von schräg oben in den bevorzugten Mundwinkel eingeführt haben.
Diese Spezies, hat an Bechern und Flaschen schürfend, saugend und nuckelnd den sozial diskriminierten Rauchern die Hoheit der Straßen entrissen. Wo früher die tödliche Coolness des Marlboro-Cowboys und die lebensbedrohliche Abenteuerlust Camel-Mannes darüber entschieden, wer angesagt ist und wer nicht, quälen heute hippe, nichtsdestotrotz visuelle Peinlichkeiten das verwöhnte Auge.
Abgesehen davon, dass es heutzutage keiner mehr aushält, länger als 20 Minuten nicht zu trinken. Soll ja gesund sein, sagt man.
Kleiner Exkurs: Nachdem unsere Kinder verlernt haben, ihre Schuhbänder zur Schleife zu binden (einfach, weil ihre Schuhe keine Schnürsenkel mehr haben), verlernen sie jetzt auch, ohne Hilfsmittel aus einer herkömmlichen ISO- und DIN-zertifizierten Flasche zu trinken?
Als ich in den frühen 80ern meinen ersten Ferienjob auf einer Baustelle antrat, gehörte die lässige Handhabung einer Bierflasche dazu bzw. war es gang und gäbe, zur Brotzeit aus einer solchen zu trinken. Man stelle sich heute vor, ein Jugendlicher füllt das Bier in eine Nuckel-Flasche … zum Glück ist mittlerweile Alkoholverbot in den Firmen. Abgesehen davon, dass auch kaum einer noch auf die Baustelle muss um sich sein erstes Auto zu verdienen.
Ich bin ein Kaffee-Junkie, dessen Großeltern sich in der Vor-Jumbo-Becher-Ära auf der Terrasse des Ausflugslokals gerne ein Kännchen, wahlweise eine Portion Kaffee gegönnt haben. Wenn Opa schon etwas älter war oder Oma nachts nicht schlafen konnte, dann gab es Kaffee Haag – und dabei erzählten sie gerne vom „Muckefuck“, den sie nach dem Krieg getrunken hatten. Eine Dose des Caro-Kaffees aus Zichorie und Malz stand bei meiner Oma übrigens immer ganz hinten im Schrank; „für schlechte Zeiten“, wie sie mit dem Zusatz „man weiß ja nie“ auf Nachfrage lapidar bemerkte.
Filterkaffee aus der handelsüblichen Kaffeemaschine bestimmte lange Jahre mein Leben. Und es war kein schlechtes Leben. Weil zum Beispiel eine volle Kanne mit zehn Tassen den Tag in der Tageszeitungsredaktion, in der ich arbeitete, strukturierte: Eine Kanne bis elf Uhr, eine bis 14 Uhr, eine dritte bis 17 Uhr – und dann läutete das erste Bier den Feierabend ein. Sollte einmal Kaffee übrig geblieben sein, dann wurde der eben kalt am nächsten Morgen getrunken. Ein echter Journalist lässt sich auch von etwas grünlicher Farbe seines Lebenselixiers nicht abhalten…
Heute steht in der Redaktion, die jetzt Newsroom heißt, ein teurer Kaffeevollautomat. Allerdings besitzen nur wenige Kollegen das nötige Ingenieurstudium um ihn zu bedienen, weshalb findige Geister ohne ökologisches Verantwortungsbewusstsein eine Kapselmaschine mitgebracht haben. Die wahren Genießer und Bohemian unserer Tage dagegen vertrauen auf den klassischen Espressokocher und gönnen sich täglich die nötige Zeit für die kleine Zeremonie der kunstvollen Kaffeezubereitung.
Zurück auf der Straße und zu den Kaffeebechern. Natürlich geht es auch darum, für welchen angesagten Coffee-Shop man damit kostenlos Werbung macht, viel wichtiger aber ist, was drin ist. Das kann nämlich sein …
…ein Caffè Latte, Caffè Americano, Iced Caffè Mocha, Caramel Macchiato, Espresso Con Panna, Flat White, oder ein Schokoladengetränk und natürlich ein Frappuccino® blended beverage oder doch lieber ein Tee Iced Tea Chai Latte…
…oder überhaupt etwas, dessen Namen ich nicht aussprechen kann, geschweige ich das Zeug trinken möchte.
Tatsächlich lässt der Inhalt bzw. die Wahl verblüffende Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Coffee-to-Go-Enthusiasten zu. Oder einfach formuliert: Sage mir, welcher Coffee-to-Go du bist und ich sage dir, welcher Beruf für dich geeignet ist und welcher Partner zu dir passt. Gerade frage ich mich, ob Parship und Elite-Partner auch nach dem bevorzugten Coffe-to-Go fragen – und ob Stepstone.de oder Monster.de als Skill auch den gewünschten Pappbecher aufzählen?
Ich würde jedenfalls in meinen Bewerbungsbogen schreiben: Ich hätte gerne ein Kännchen Kaffee. Wenn es geht, auf der Terrasse bitte.