Nicht für die Schule quälst du dich…

Es gibt Nächte, in denen ich schweißgebadet von einem Albtraum aufschrecke, in dem ich in kurzen blauen Turnhosen und im Feinripp-Unterhemd am Reck stehe. Ich bin übergewichtig, links und rechts von mir dienen zwei schmächtige Mitschüler als Unterstützung, die mir dabei helfen sollen, endlich den wuchtigen Körper im „Felgaufschwung“ um die Reckstange zu drehen. Das kann nicht nur sehr schmerzhaft sein, das ist es auch.

Noch heute begleitet mich in dunklen Stunden das feixende und feiste Gesicht des Sportlehrers, der unverkennbar seine sadistische Freude daran hatte, wie der dicke Krebs in der fünften und sechsten Klasse des Gymnasiums an den einfachsten Turnübungen scheiterte. Damit aber nicht genug: Die sehr schmerzhafte Demütigung der zwei, drei Unsportlichen pro Klasse fand ihren Höhepunkt in der boshaft kommentierten Zurschaustellung vor der gesamten Klasse.

Artikel 1 des Grundgesetzes und die darin sorgsam geschützte Würde des Menschen, sie galten nicht für den Sportunterricht, wo das zweifelhafte Auswahlverfahren zweier Mannschaften den „Letzten“ das Stigma der Unfähigkeit jeden Tag aufs Neue in die geschundene Psyche hineinbrannte.

Als jemand, der leidlich einen Ball fangen und werfen (bedauerlicherweise aber nicht schießen) konnte, blickte ich mitleidig (und mit einer versteckten, dennoch schäbigen Genugtuung, dass es diesmal nicht mich erwischt hat) auf die Ballsport-Legastheniker – um wenig später meine fehlende Sprungkraft UND meine beträchtliche Masse am Kasten krachend unter Beweis zu stellen. Aua.

Ein Krebs, der hing am Seil

Der schmerzhafte Aufprall des Basketballs auf den Schädel beim Druckpass, die kantigen Holme des Barren an den Schultern, der brennende Brustkorb ab der vorletzten Runde beim Dauerlauf: es gab die unterschiedlichsten Variationen von Schmerz, erniedrigend waren sie alle. Das perfideste Turngerät von allen aber war das Seil. Sich an ihm in schwindelerregende Höhen zu hangeln, blieb eine Aufgabe, die ich nicht in diesem Leben bewältigen werde.

Weshalb fast jede Krebs-Turnstunde mit folgendem Bild endete: Zwei Gruppen, die auf einem wenig vergnüglichen Parcours gegeneinander angetreten waren, standen vor den beiden Seilen, an denen zum Finale des Wettkampfes ihre zwei dicken Mitschüler wie nasse Säcke hingen. Die Fußsohlen kaum einen halben Meter vom Boden entfernt, die schwabbeligen Arme leicht angewinkelt (mehr ging einfach nicht) kämpften sie sich unter dem Gelächter und den Beschimpfungen ihres jeweiligen Teams eine Strecke nach oben, die im Bestfall in Zentimeter, meist aber in Millimeter gemessen wurde.

Je nach Laune (und wie sehr er wohl gerade daheim von seiner Ehefrau getriezt worden war) wartete der Sportlehrer von fünf Minuten bis zur Viertelstunde, bis er die beiden adipösen Konkurrenten mit einem Pfiff und einem „Das wird nichts mehr!“ erlöste.

Zu viel Sexualkundeunterricht ist auch nicht gesund

In den späten Siebzigern wehte mit der neuen Generation „pädagogisch wertvoller“ Lehrerinnen und Lehrer ein neuer humaner Wind durch die Klassenräume und Sporthallen. So erzählt zumindest die Legende – wie jedoch allseits bekannt ist, neigen Menschen zum historischen Weichzeichner, mit dem in diesem Fall mitfühlende Lehrer in weiten Schlaghosen und bunten Hippie-Hemden skizziert werden, die „Blowing Wind“ auf der Gitarre spielend, den Schülern das „Du“ aufdrängten.

Keine Frage, es gab sie, diese Lehrer, die damals zwar maximal emanzipiert, aber noch nicht gegendert waren. Sie zelebrierten den Sexualkundeunterricht von der 5. bis zur 11. Klasse als Fanal gegen die Prüderie und ernteten dabei nach Altersklasse wahlweise entweder verschämtes Gekicher oder aufkommende Triebhaftigkeit.

Ich war ein Spätzünder, ich war vor allem überfordert.

Aber auch diese Lehrer waren noch Geschöpfe altvorderer Zeit, nur verdeckten sie dies in pädagogischen Konzepten, die der selbstbestimmten Charakterentwicklung der Jugend zu dienen vorgaben. Sie waren laut Lehrer allesamt vor allem wertvoll ….und nein, waren sie nicht.

Ich erinnere mich an die liebreizende Lehrerin, die mich meinen Schulaufsatz vorlesen ließ und den Rest der Klasse um eine Note bat. Wie groß war die allgemeine Freude, als man im juchzenden Einklang die „Vier minus“ der Lehrerin mit reichlich Argumenten bestätigte. Ich mag diesen Aufsatz heute immer noch, gerade wegen seiner öffentlichen Hinrichtung ist er mir besonders lieb geworden.

Oder der lässige Lehrer im Cord-Sakko mit ledernen Ellbogen-Einsetzen: Er wollte in mir die Liebe zur englischen Sprache wecken, indem ich jede Schulstunde minutenlang das „th“ intonieren durfte. Meinen Klassenkameraden erklärte er dabei lächelnd „So macht man es nicht“

Es traf niemals die Starken, sondern immer die Schwachen. Nur zu gerne triezte der Lateinlehrer die graue Schüler-Maus aus der vorderster Bank mit Deklinationen und Konjugationen (mein Freund Martin zum Beispiel, stinkreicher Zahnarzt mittlerweile, hat genau dieses Albtraum, der sich auch 40 Jahre nach dem Abitur fast wöchentlich wiederholt) oder ließ der schreiende Mathelehrer den langhaarigen Sohn eines gescheiterten Künstlers hunderte Male das „große Einmaleins“ abschreiben, weil der Schüler zwar gut zeichnen, aber nicht rechnen konnte – und deshalb noch in der fünften Klasse die Schule verließ.

Apropos Zeichnen: Was für ein Fest war es jedes Mal für den verkniffenen Kunstlehrer-Asketen, wenn in meiner Klasse die dicke Gisela zu Bleistift oder Pinsel griff. Selbst Strichmännchen waren für sie eine nicht zu lösende Aufgabe, was dem Lehrer und allen Schülern eine diebische Freude bereitete. Dank Gisela hatten wir viel zu lachen & zu spotten – und fühlten wir uns alle überlegen. Es waren glückliche Zeiten für alle … außer Gisela.

Ob wir in der Schule etwas fürs Leben gelernt haben? Ich fürchte, ja.

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