Vor 40 Jahren habe ich mein Abitur gebaut. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn es nicht Frau G. gäbe. Frau G. hieß früher Fräulein D. – und wird von allen noch genauso genannt, wenn sie genau das organisiert, um was es heute geht: Sie ist das Alpha und Omega unserer Abitur-Treffen, ohne sie hätte noch kein einziges stattgefunden.
Wie das Leben allgemein und jedes unserer Leben ganz individuell, durchliefen auch die Abi-Treffen eine eigene Entwicklung. Und jedes einzelne war ganz anders, unverwechselbar.
5 Jahre:
Die Erinnerungen ans Abitur waren noch frisch, die meisten von uns noch in der Findungsphase oder mitten im Studium. Bemerkenswert, wie schnell sich manche enge Abitur-Bande gelöst hatten, erstaunlich auch der eine oder andere Weg, der eingeschlagen worden war. Vieles hatte man irgendwie erwartet, von nicht wenigem wurde man aber überrascht – zum Beispiel von den Mauerblümchen und Strebern der Schulzeit, deren faszinierende Persönlichkeit sich in den Jahren nach dem Abitur entfaltet hat.
10 und 15 Jahre:
Mein Job, mein Haus, mein Auto – ich weiß nicht, ob auch eine Yacht dabei war. Der plakative Witz, der Klassentreffen beschreibt, traf natürlich auch auf uns zu. Das war häufig spannend, aber manchmal auch etwas anstrengend. All jene, die es nicht geschafft haben, blieben zuhause.
Derweil tanzten die Leute auf dem Abiturtreffen die Francaise.
20 und 25 Jahre:
Es tauchten neue Themen auf, denn die ersten Kinder waren geboren. Ich weiß noch, wie ich meiner ältesten Freundin Gigi mit Baby über den Weg lief und freudig meint: „Oh, du bist auch Mama.“ Sie antwortete lapidar: „Es ist mein Viertes.“ Natürlich wurde auch über den Job geredet und auch über die ersten Scheidungen … vor allem von denen, die nicht dabei waren.
Abitur-Treffen sind so bunt wie das Leben. Es gibt
- die in Burglengenfeld gebliebenen, die weit gereisten UND die, die wieder zurückgekommen sind
- die Familienmenschen und diejenigen, die Karriere machten – und einige schafften sogar beides.
- die beim Treffen an einem Platz sitzen bleiben und solche, die von Tisch zu Tisch wandern
- diejenigen, die sich regelmäßig sehen, und andere, denen nur alle fünf Jahre auftauchen
- und und und
Aber uns alle verbinden die Geschichten von früher, die wir gerne mit dem Weichzeichner fröhlicher machen als sie waren – und manchmal auch nur erträglich.
So oder so tanzten wir die Francaise.
30 Jahre:
Wir waren um die 50 Jahre alt. Ich glaubte, es galt das Gleiche wie in der Generation unserer Großeltern, was heißt: Wir waren uralt und man sah das auch. Außer mir natürlich, denn ich fühlte mich maximal fit, hatte vor dem Abi-Treffen gefastet, trainiert und mir eine Gesichtsmaske gegönnt.
Doch welche Enttäuschung: Die anderen sahen viel fitter und besser aus – die Tuscheleien der Damen am Tisch, dass doch der Hansi immer noch ein Schnittchen wäre und der Hans-Jürgen sogar noch besser aussieht als zu Abitur-Zeiten, waren zutiefst frustrierend.
Abgesehen davon begegnete ich erstmals Menschen, die mir fremd waren. Bei diesem und den folgenden Abiturtreffen wiederholte sich nun die Szenerie zum Start der Zusammenkunft: Man stand mit den bekannten Abiturenten zusammen und fragte erst einmal „Kennst du den, der neben der steht, die mir gesichtsweise irgendwie …. mit denen sind wir doch nie in die Schule gegangen?“
Aber es stellte sich immer heraus, dass wir doch …. und wir tanzten die Francaise.
35 Jahre:
Schade oder auch endlich: Wir tanzten keine Francaise mehr – vielleicht ist dieses Abi-Treffen in meiner Erinnerung auch deshalb das entspannteste. Spaß beiseite, es lag vor allem auch daran: Alle, die da waren, mussten sich nichts mehr beweisen. Wir schwelgten vor allem in den Erinnerungen und dachten uns wohl meistens, dass der Satz wohl stimmt, dass Erinnerungen das einzige Paradies sind, aus dem man nicht vertrieben werden kann.
Wenn ich allerdings an den Turnunterricht in der 5. und 6. Klasse denke, dann beschwören eben diese Erinnerungen auch die Hölle herauf. Aber man konnte jetzt darüber lachen.
40 Jahre, heute:
Wir sind (fast) 60 Jahre alt. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Wehwehchen und Gebrechen sich heute versammeln, wie viele Pollen und Tabletten wir als Abitur-Jahrgang 1983 tagtäglich zu uns nehmen. Wie alle sehen (und manche auch süffisant anmerken), habe ich nicht mehr gefastet und trainiert – das Schöne an unserem Alter ist die Milde, mit der man nicht nur anderen, sondern auch sich selbst begegnet. Wir wissen, wie viel wichtiger es ist, den Augenblick bewusst zu genießen – und dass man mit der nötigen Portion Gelassenheit viel mehr Spaß am Leben hat.
Die meisten von uns haben ihre Eltern zu Grabe getragen, die meisten unserer Kinder sind erwachsen geworden und gehen ihren eigenen Weg. Sie mussten und müssen sich in jungen Jahren bereits auseinandersetzen mit Pandemie, Ukraine-Krieg und Klima-Wandel. Und sie kennen die unsägliche Öffentlichkeit der Sozialen Medien, die ohne Filter nicht existiert.
Mal ehrlich, wie wären unsere Abitur-Feiern wohl gelaufen mit Smartphone und dem Risiko, mit 2,0 Promille (und mehr) gefilmt zu werden?
Genau: Als 1983er Abitur-Jahrgang gehören wir – ungeachtet persönlicher Schicksale – einer Generation an, die vor allem eines sein sollte: Dankbar.