Ich mag gerne meine Ruhe. Deshalb antworte ich auf die Frage „Können Sie sich vorstellen, auf einer einsamen Insel zu leben?“ mit voller Inbrunst JA. Aus demselben Grund heißt meine Antwort auf die Frage „Fahren Sie gerne Zug?“ ohne zu Zögern: NEIN.
Ein Zug ist der Ort, den der Teufel eigens für mich geschaffen hat. Hier schmore ich im siedend heißen, stinkenden und den Atem raubenden Fegefeuer aller Geißeln und Strafen, die ich mir in den schlimmsten Träumen nicht vorstellen könnte. Und dabei rede ich noch nicht einmal vom Interrail-Trip als frisch gebackener Abiturient, als ich 1983 auf der Zugfahrt in das südfranzösische Seté wegen gnadenloser Überfüllung drei Stunden auf dem Zug-Klo verbrachte. Nicht allein, sondern mit vier anderen, die ebenfalls nirgendwo sonst einen Platz gefunden hatten. Solche Erlebnisse verbinden nicht, sie machen dich zum Menschenfeind.
Mein Freund Markus liebt es, mit der Bahn zu fahren. Er kennt sich im Tarifsystem aus und meint, es wäre die günstigste Alternative von A nach B zu kommen. Und arbeiten kann er dabei auch noch. Ich dagegen habe immer das Gefühl, dass ich zu viel bezahle – und zum Arbeiten bin ich noch nie gekommen. Nun, Markus ist kleiner als ich … und offensichtlich schwindelt er hin und wieder gerne.
Früher machte ich wiederholt den Fehler und belegte ein geschlossenes, leeres Abteil – in Vorfreude, sechs Plätze allein für mich zu haben. Ach, wie dumm und einfältig ich damals war!
Denn natürlich sitzen bei Abfahrt des Zuges fünf weitere Personen im Abteil, und natürlich isst einer von ihnen schmatzend eine Fischsemmel, während ein anderer im Fünf-Minuten-Rhythmus über mich hinweg steigt, um aus seiner Reisetasche im Gepäckfach ein vergessenes Utensil zu kramen. Und natürlich dürfen die beiden älteren Damen nicht fehlen, die sich wortreich und detailverliebt über ihre Krankheiten austauschen.
Wer liest eigentlich im Zug noch ein Buch? Wer kauft sich am Bahnhofskiosk eigentlich noch DIE ZEIT, um sie für jeden sichtbar unter dem Arm zu klemmen, wenn er das Wagenabteil betritt? Es scheint, es sind längst überholte Rituale aus längst vergangenen, goldenen Zeiten. Nicht einmal Markus macht das noch.
Im Großraumwagen ist es auch nicht besser. Weil ich mir wegen Markus stets vornehme zu arbeiten, reserviere ich einen Platz an einem Vierer-Tisch. Ein aberwitziges Vorhaben, denn vier Notebooks unterschiedlicher Größen und nur zwei Steckdosen, der damit verbundene Kabelsalat und die Tatsache, dass sich neben mir ein weiterer Zwei-Zentner-zwei-Meter-Kerl im Daunen-Parka setzt, überfordern meinen Geist und Körper.
Es ist eng. Sehr eng. Wer seine Privatsphäre schätzt, darf nicht Zug fahren. Und am Notebook arbeiten auch nicht. Denn der Sitznachbar kann alles mitlesen, selbst die vertraulichsten Top Secret-Informationen. Noch schlimmer aber, wenn es ihn nicht interessiert.
Ich dagegen lasse mich gerne stören und ablenken. Am leichtesten von dem Mann, der in jedem Großraumwagen mitfährt. Der so gerne in sein Handy brüllt und uns alle daran teilhaben lässt, wie er ein Problem in der Firma löst, was er von seinem Chef hält – und warum er überhaupt und sowieso ein richtig toller Typ ist. Das wiederholt er immer wieder, denn bei einer Zugfahrt kann er mehrere Leute anrufen. Bezeichnend für ihn sind sein übermotiviertes Lachen und sein vertraulich-jovialer Kumpel-Ton. Ich mag ihn bereits nicht, bevor die Waggontüre geschlossen ist.
Früher oder später, meist aber früher lande ich im Bord-Bistro eines Zuges. Wie das dicke Kind vom Rattenfänger von Hameln lockt mich unwiderstehlich der sächsische Bord-Lautsprecher: „Kennen Sie schon unser kombiniertes Angebot? Lassen Sie sich bitte von der Frikadelle im Brötchen und einem Becks Bier überraschen!“ Das sind überzeugende Argumente, zumal ich mir abgewöhnt habe, im Zug Kaffee zu trinken. Ich trinke ihn nämlich mit Milch bzw. Kaffeesahne … und schaffe es bis heute nicht, die kleinen Sahnebüchsen aufzureißen ohne mich einzusauen.
Ich mag keine Züge. Aber dann gibt es plötzlich dieses Mädchen, das im Schutz überdimensionierter Kopfhörer in ein Buch vertieft ist. Das Mädchen, das wegen einer Szene in ihrem Buch plötzlich schallend lacht – ohne ihre Umgebung wahrzunehmen. Wegen ihr fahre ich vielleicht doch noch einmal Zug. Und wegen des sächsischen Bord-Lautsprechers und der Frikadelle im Brötchen.