Die Tänzer in der Gischt

Weil die Eltern arbeiten mussten, hatte sich der Großvater Zeit genommen, um mit seinen beiden Enkelkindern, einem Mädchen und einem Jungen, ans Meer zu fahren. Einen ganzen Tag wollten sie an der Nordsee gemeinsam im Sand buddeln, am Strand und über die Dünen laufen, nach Wattwürmern graben, den Möwen zuwinken, die mitgebrachten belegten Brote und Kuchenstücke essen, Ball spielen und wenn der Wind stark genug sei, auch ihre bunten Drachen steigen lassen.

Und die Enkel hofften darauf, dass ihnen ihr Opa einige Geschichten erzählen würde. Denn er war ein großartiger Vorleser und Erzähler – und hatte ihnen schon oft spätabends, wenn er ihr Babysitter war, mit seinen Geschichten den Weg in schöne, bunte und immer fröhliche Träume gewiesen.

Als sie zuerst eine Sandburg gebaut hatten und danach mit hoch gezogenen Hosen barfuß durch die auslaufenden Wellen gelaufen waren, saßen sie jetzt auf einer nicht allzu hohen Düne, hatten den Picknick-Korb ausgepackt, futterten die Sachen, die darin waren, und schauten aufs Meer.

„Opa, warum sind eigentlich die Wellen oben so weiß? Das sieht aus wie Schaum“, wollte das Mädchen wissen, während sie an einer Karotte knabberte. Ihr Bruder, ein kleiner Besserwisser, meinte verächtlich: „Das weiß doch jeder. Wenn Wasser aufgewühlt wird und sich mit Luft vermischt, dann entsteht dieser Schaum, den man übrigens Gischt nennt.“

„Das mag natürlich stimmen“, sagte daraufhin der Großvater, aber es könnte auch ganz anders sein.“ Er hatte genau mit der Stimme gesprochen, die – wie die Kinder wussten – eine neue Geschichte ankündigte, weshalb sie auch mucksmäuschenstill blieben: „Es könnte nämlich auch sein, dass in der Gischt Millionen von kleinen Lebewesen leben – ich nenne sie einfach mal `die Tänzer`.“

„Sie tanzen? Das klingt aber toll“, rief das Mädchen ganz aufgeregt; „Bitte Opa, erzähle uns von ihnen!“ Und er tat ihr gerne den Gefallen.

„Dies klitzekleinen Lebewesen sind ganz zauberhafte Geschöpfe, die sehr ungewöhnlich aussehen. Sie haben ein Büschel silberglänzender, langer Haare auf dem Kopf, „nur“ vier Beine“, aber nach allen Seiten hin Augen und Arme, die sie als kleine Paddel einsetzen, um sich wie Brummkreisel geschwind zu drehen. Und dabei lachen sie lauthals. Und dieses millionenfache Lachen hört sich für uns Menschen an wie Meeresrauschen. Ist das nicht eine wundervolle Vorstellung?

Die winzigen Tänzerinnen heißen alle Gisela und die Tänzer alle Günther. Und wenn sie sich drehen, wird ihnen gar nicht schwindelig, im Gegenteil: Je doller sie sich drehen, desto fröhlicher werden sie.

Sie genießen es sehr, dazu zu gehören und mit ihren vielen Schwestern und Brüdern zu tanzen. Ganz zu Beginn ihres Tanzes zu Beginn der Zeit und der großen Meere unterschieden sich die kleinen Lebewesen voneinander, so wie wir Menschen es tun. Aber im Gegensatz zu uns waren ihnen die Verschiedenheiten nicht so wichtig wie die Gemeinsamkeiten. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass sie sich im unendlichen Meer nicht so wichtig nahmen, weil sie doch so klein waren. Jedenfalls haben sie vor langer, langer Zeit beschlossen, allesamt das Gleiche zu tun, gemeinsam zu lachen und immerfort zu tanzen.“

„Du Opa“, fragte der Junge, „wir Menschen sollen aber nicht alle gleich sein, oder?“ Der alte Mann antwortete: „Bloß nicht. Aber wir sollten vielleicht öfter darauf achten, was wir gemeinsam haben. Und wir sollten viel häufiger laut lachen und zusammen tanzen.“

„Ich mag deine Geschichte“, rief das Mädchen. Sie sprang auf, packte ihren Bruder bei den Armen und zog ihn an den Strand. Dort umarmte sie ihn und begann sich mit ihm zu drehen. Immer schneller und schneller … und dabei juchzten sie lauthals, während der Großvater sie schmunzelnd betrachtete.

Bild von Dimitris Vetsikas auf Pixabay

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