Wenn mich jemand vor zehn Jahren gefragt hätte, welche gesellschaftlich Veranstaltung bzw. welche Tradition mir besonders bizarr erscheint, dann hätte ich ohne Zögern geantwortet: Festzüge!
Weder verstand ich die Menschen, die bei einem Festzug mitmarschierten, noch verstand ich die Menschen, die am Straßenrand winkten und klatschten. Nachdem ich also als Kind im gelben Sporttrikot, eingerahmt von Vereinskollegen, bei einem Jubiläums-Festzug des ASV Burglengenfeld mitmarschieren musste, verwehrte ich mich danach als Jugendlicher und Erwachsener den entsprechenden, mir so fremden Zwängen.
Aber damals standen wenigstens noch viele Menschen am Straßenrand und winkten
Ich marschiere nicht, also bin ich. Das Credo des unabhängigen Vereins-Revoluzzers und des tapferen Festzug-Widerständlers begleitete mich fortan ein halbes Leben lang.
Bis ich in der Kommunalpolitik landete und seitdem als 2. Bürgermeister nicht nur einfach mitmarschiere, sondern mit dem 1. und dem 3. Bürgermeister meist sogar dem Zug vorangehe. Nicht selten als flankierendes Beiwerk für Landrat und Pfarrer.
Ganz ehrlich: Ich habe seit der vergangenen Kommunalwahl das untrügliche Gefühl, dass ich an meinen freien Wochenenden nichts anderes mehr mache als den Marktplatz unserer wunderschönen Heimatstadt hinauf und hinab zu marschieren. Blöde lächelnd, halbherzig winkend, meist stumm – und stets verzweifelt & mit knapp zwei Metern Körperlänge fast immer vergeblich versuchend, den Gleichschritt zu wahren. Spätestens in der Kurve zur Brücke gerate ich aus dem Takt und in das Spott-Visier der Hintermänner.
Die unerträgliche Situation wird noch gesteigert, weil ich Landrat sowie 1. und 3. Bürgermeister heimlich beneide um ihre nonchalante Souveränität, diese Tortur nicht nur über sich ergehen zu lassen, sondern sie sogar sichtbar zu genießen. Vielleicht liegt es daran, dass sie der CSU angehören und ich der SPD, was die Sache aber nicht besser macht.
Ich marschiere, also bin ich. Zumindest ein Kommunalpolitiker. Und als solcher darf ich keinen Festzug versäumen, auch wenn ich weiß, dass jeder gewonnen Stimme für den nächsten Wahlkampf mindestens zwei verlorene entgegenstehen. Wenn ich nämlich zur linken Seite winke und herzlich das Volk grüße, vernachlässige ich die rechte Seite – ein unlösbares Dilemma, das mir den Ruf (auf der rechten Seite) des „arroganten Kerls, der uns nicht einmal anschaut“ einbringt, während manch einer auf der linken Seite sich fragt: „Was will der Typ eigentlich, ich kenne ihn doch gar nicht.“
Nach fünf Jahren bin ich Festzugsprofi: Ob die dank Freibier beschwipste Volksfestgaudi oder der mittlerweile sehr einsame Zug zum 1. Mai, ob inmitten von uniformierten Reservisten der stumme Volkstrauerzug zum Friedhof oder das laute Faschingstreiben, wo alte Bonbons als Wurfgeschosse ihre wahre Verwendung finden – es gibt keinen Festzug, Umzug oder Kirchenzug, bei dem ich nicht mitmarschiere.
Ich habe dabei viel über Gleichmut nachgedacht und einiges über Demut gelernt. Ich hatte genügend Zeit, jedes Detail am Wege eingehend zu studieren und so eine Menge Unbekanntes über meine Heimatstadt erfahren. Ich habe geschwitzt und gefroren, habe den Jahreszeiten getrotzt und dabei mehr als einmal großen Durst gehabt. Oder mir eine Toilette am Wegesrand gewünscht.
Und ich habe als chaotisch veranlagter Mensch gelernt, wie wichtig Ordnung für das Miteinander ist. Denn wenn erst einmal der Pfarrgemeinderat hinter der Fußballjugend, die Feuerwehr hinter dem Kegelverein und die Blaskapelle ganz am Schluss marschieren sollte, dann gibt es keine Hoffnung mehr. Und ich würde nie mehr den Marktplatz hinaufmarschieren. Und nie mehr hinunter.