Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen an größere Familientreffen wird von meiner Mutter geschrieben, die sich nach jeder Mahlzeit herrlich darüber aufregen konnte, dass Großonkel Wenzel den Tisch abräumte, kaum hatte man den letzten Bissen vertilgt (oder auch nicht).
Er tat dies nicht nur bei sich daheim, sondern versuchte dies auch bei uns, wenn er mit meiner geliebten Großtante Gerda zu Besuch war. Meine Mutter wehrte sich vehement und meist erfolgreich, so dass Großonkel Wenzel nichts anderes übrigblieb, der Unruhe des Zwanghaften damit zu begegnen, indem er nach dem Essen um unser Haus spazierte. Ob dies für die Konversation und die Stimmung am Tisch ein Verlust war, kann ich heute mehr nicht beurteilen.
Was ich aber sehr schade finde: Weil damals ein Film für den Fotoapparat noch jede Menge Geld kostete, war man – im Gegensatz zum digitalen Zeitalter der Gegenwart – sehr sparsam mit Schnappschüssen, zumal man auch erst nach dem Entwickeln des Filmes sah, ob die Aufnahme gelungen oder unterbelichtet oder verschwommen war.
Jedenfalls fehlen mir deshalb fotografische Dokumente von Tischen nach einem Essen mit Verwandten, Freunden oder Bekannten. Es gibt keine Fotos von wahren Essensschlachten und Kalorienorgien, bei denen die Gelassenheit unserer Eltern, alles erst einmal so stehen zu lassen, auch beredter Ausdruck davon war, dass man „es sich leisten konnte“.
Hühnerbeine auf schmutzigen Tischservietten, von Sauce oder Ketchup verschmierte Teller mit vereinzelten Erbsen, undefinierbare Kartoffelpüree-Häufchen und Reste vom Kasseler, die halbvolle Weinflasche, das Glas mit Lippenstift daneben, der kleine Teller, auf dem vorher die Knoblauchbutter serviert worden war, als Aschenbecher. Okay, die Suppenteller sind abgeräumt worden, wegen der kleinen Schüsseln mit Dr. Oetker-Vanille-Pudding als Nachtisch wurden aber die Überreste des Hauptgangs nicht entfernt. Dazwischen noch Platz für Schnapsgläser und die giftgrüne Becherovka-Flasche.
Und natürlich war auch immer viel zu viel gekocht worden, so dass es immer am Tisch einen gab, der meinte „Lass es stehen, es könnte ja sein, dass ich…“. Und es war oft selbstverständlich, dass alles auf einen Teller gepackt wurde und nicht in 1.000 Schüsselchen gereicht. Mit Blick auf den Tisch schmunzelte meine Mutter gerne lapidar „Hier sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld“. Dennoch blieb man sitzen, obwohl Großtante Gerda und ihr Gatte mittlerweile gegangen waren. Und es konnte durchaus sein, dass der Tisch erst am nächsten Morgen abgeräumt wurde, wenn der Abend länger dauerte und man bei Gesprächen die Zeit, aber nicht den Alkohol vergaß.
Heute habe ich das Gefühl, dass alles sofort weggeräumt wird, alles schnell sauber ist, die wenigen Raucher vor der Tür stehen – und das gesunde Essen vielleicht farbenfroher, aber weniger bunt daherkommt.
Deshalb mein Aufruf: Lasst uns die Tische wieder füllen und nicht abräumen (okay, auf den Knoblauchbutterteller-Aschenbecher wollen wir verzichten), bis wir wirklich kein Gesprächsthema mehr haben. So machen wir es bei mir zuhause & das dauert schon mal ….
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