Mein schlechtes Gedächtnis und ich

Ich habe einen Traum: Ich bin Kandidat bei „Wer wird Millionär“. Ich habe mich bis zur Eine Million Euro-Frage durchgewurstelt, alle Joker sind verbraucht – und Günther Jauch fragt mich mit einem gemeinen Grinsen: „Was bedeutet ‚mactāre‘?“. Wie aus der Pistole geschossen schleudere ich ihm „opfern, ehrenvoll beschenken, schlachten“ entgegen, die Fanfare ertönt, das Glitter-Konfetti regnet auf mich hinab und ich bin auf einen Schlag stinkereich.

Zum Hintergrund: Ich besitze das „Große Latinum“… und erinnere mich an rein gar nichts mehr aus dem siebenjährigen Latein-Unterricht. Mit einer Ausnahme. ‚mactāre‘ aus der achten Klasse hat sich auf immer und ewig in mein Hirn gefräst. Und weil ich nicht weiß, warum, und weil ich ansonsten so vieles vergesse, gibt es nur eine Hoffnung für meinen letzten lateinischen Rest: Günther Jauch und die Eine Million Euro-Frage.

Wissen Sie, was Sie vergangene Woche am Mittwoch zu Abend aßen? Oder was Sie gestern aus dem Keller holten (und dreimal zurückgehen mussten, weil Sie es „unten“ immer vergessen hatten?

Ich weiß es nicht, wie ich überhaupt sehr wenig weiß (also ganz nah bei Sokrates und seinem „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ bin) und mich an noch weniger erinnere. Ich bin der Kerl mit dem schlechten Gedächtnis, an dem Bekannte, Freunde und Familie verzweifeln und sich daran abarbeiten, wenn ich einmal mehr mit verständnislosem Staunen Altbekanntes als für mich Neues entdecke – oder immer wieder über den gleichen schlechten Witz herzhaft lache. Natürlich schweben dann Begriffe wie „Demenz“ oder „Senilität“ im Raum. ABER: Ich war schon in jungen Jahren so.

Unterhaltungen mit einem Bekannten folgen sich stets wiederholenden Ritualen: Auf Fragen von mir folgt ein „Das habe ich dir doch schon gesagt!“ des Gegenübers. Wenn ich wiederum etwas erzähle, erhalte ich regelmäßig ein „Das hast du mir doch schon gesagt“.

Zugegeben, mein mieses Gedächtnis hat für geduldige Freunde zwei Riesenvorteile: Sie können mir so oft sie wollen das Gleiche erzählen und dürfen in mir einen interessierten Zuhörer erwarten. Zum anderen trage ich mit diesem Manko gerne zur allgemeinen Erheiterung bei, wenn ich

  • bei Namen nicht mit kreativen Wortschöpfungen geize,
  • bei 50 zu 50-Wahrscheinlichkeiten 100prozentig die falsche Wahl treffe (ich sage nur „brutto und netto“ und alle Freunde wissen, was ich meine),
  • nach wir vor die Visitenkarte hervorholen muss, um meine Telefonnummer anzugeben oder
  • ratlos-verschämt am Bankautomaten bzw. an der Discounter-Kasse stehe, nachdem ich zum dritten Mal hintereinander den falschen Zahlencode eingegeben habe.

Abbitte muss ich all jenen Bekannten und Freunden leisten, die glauben, ich interessiere mich nicht ausreichend für sie. Das Gegenteil ist der Fall. Ich kann mir mein schlechtes Gedächtnis nur damit erklären, dass der Speicher meines Gehirns bereits seit langem voll ist. Und immer, wenn eine neue Information hineingeschoben wird, ploppt am anderen Ende eine Erinnerung heraus. Dumm nur, dass ich nicht beeinflussen kann, welche.

Wenn ich könnte, wäre ‚mactāre‘ die nächste Information, die mich verlassen würde… allerdings warten da immer noch Günther Jauch und die Eine Million Euro-Frage auf mich.

Bild von John Hain auf Pixabay

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