Ich brüste mich gerne damit, dass ich an der Schule meine Facharbeit über die Relativitätstheorie von Einstein verfasst habe. Das ist allerdings 40 Jahre her. Dass ich das Vordiplom in Allgemeiner Physik in der Tasche habe – auch damit gebe ich gerne an. Und auch das ist angesichts der 4.0 in Mathe wenig rühmlich und 37 Jahre her. Was ich aber seitdem weiß und auf alle Lebensbereiche anwende:
Wenn es nicht gerade um Licht im Vakuum geht, ist Geschwindigkeit eine Frage der Perspektive und wird höchst individuell wahrgenommen.
Und weil Geschwindigkeit untrennbar mit der Fähigkeit der Beobachtung verbunden ist, möchte ich im Folgenden dieselben ohne nähere Idee einer Chronologie aneinanderreihen:
Vorab: Den alten Witz mit „ich schnell müde“ erspare ich uns, obwohl er in meinem Fall stimmt.
LESEN. Ich lese schnell, manches nur quer und häufig nicht gründlich. Was bei längeren Texten bzw. Romanen mit vielen Personen sehr mühsam werden kann, denn ich merke mir nur schlecht die Namen der Protagonisten. Was heißt: Ich blättere häufig zurück, sehr häufig sogar.
Jeder liest in seinem Tempo, was nicht weiter problematisch ist, sofern er allein liest. Muss ich aber z.B. am Bildschirm bei erzwungener gemeinsamer Lektüre eines Textes auf „Gründlich-Leser“ warten, schadet dies nachweislich meinem Blutdruck. Andererseits hatte ich mich in jungen Jahren in eine hübsche Frau gerade deshalb verliebt, weil sie im Café ungefragt meine Zeitung mitlas und mich dabei nicht bremste. Immer, wenn ich vor dem Umblättern hochblickte, nickte sie grinsend.
SCHNELL/LANGSAM. Ich bin stinkendfaul, weshalb ich die Wege zwischen den Pausen hurtig zurücklege. Überhaupt erscheint mir das bewegungslose Rasten (inklusive dumm schauen und an nichts denken) ein bevorzugter Zustand meines Daseins. Das wiederum führt zur dialektischen Umkehrung, wenn ich schnell arbeite und noch schneller esse. Kritiker meinen, die Qualität zum einen und der Genuss zum anderen blieben dabei auf der Strecke – ich entgegne: Wer konzentriert bleibt, stellt beides sicher.
Sagte ich schon, dass ich nicht Multitasking-fähig bin? Das ist nämlich wichtig.
Ich bin also schnell, weil ich gerne langsam oder gar bewegungslos sein möchte. Der in mir manifestierte Gegensatz offenbart sich in besonderer Weise auf dem abendlichen Sofa mit der Fernbedienung in der Hand. Wenn ich nicht gerade schlummere (was ich sehr früh und gerne tue), bin ich stolz darauf, der schnellste „Zapper“ östlich des Mississippi zu sein. Zehn Programme in drei Sekunden – während der Mutter meiner Söhne schwindelig wird, schnarche ich bereits wieder.
Apropos Mutter bzw. Vater. Nichts ist so schnell wie Kinder, die ausbüxen. Kaum dreht man sich einmal kurz um, sind sie schon weg.
PSYCHOLOGISCHES …. Jaja, Ausnahmen bestätigen die Regel, aber die meisten mir bekannten und sich in heterosexuellen Partnerschaften befindlichen Männer verbringen viel Zeit damit, dass sie auf ihre Frau warten. Und aus eigener Erfahrung weiß ich, dass unterschiedliche Tempi und Warten zartbesaitet-ungeduldige Gemüter wie mich in den Wahnsinn treiben können. Noch schlimmer ist eigentlich nur, wenn das Piesel-Phänomen die Zeit im Unendlichen dehnt.
Ohne Zweifel verführen lange Pausen dazu, über die Zeit nachzudenken.
… UND PHILOSOPHISCHES. Der Mensch ist Zeit seines Lebens bemüht, schneller zu werden (u.a. auf dem Weg zum Erfolg) oder langsamer (z. B. altern). Er mag sich nicht damit abfinden, ein Tempo einfach hinzunehmen. Dabei kann die Physik vielleicht einen entscheidenden Hinweis geben: Lichtgeschwindigkeit oder Schallgeschwindigkeit – es kommt auf das Medium bzw. auf die Umgebung an, in dem man sich bewegt.
In der Anwesenheit von Menschen, die ich mag, vergeht die Zeit gleichzeitig ganz langsam und viel zu schnell. Die Perspektive ist dann plötzlich herzlich egal … außer, ich muss auf einen warten.