Ich kenne keinen Erwachsenen, der nicht über den Stress im Advent jammert. Und selbstverständlich gehöre auch ich zu all jenen, die mit einem weithin hörbaren Seufzer bedauern, dass sie in der Weihnachtszeit überhaupt keine Muße für Besinnliches haben. Zugegeben, irgendwie hat es etwas bizarr Heimeliges, sich in den Kanon der Gehetzten und Gejagten, der Schwestern und Brüder im adventlichen Opfergeiste einzureihen und die neuen Zeiten zu beklagen: Mir geht es schlecht, ich kann nichts dafür.
Bedauerlicher- oder, je nachdem, glücklicherweise fehlen mir auch zu Weihnachten gänzlich das Psychiater-Gen, die Priester-Berufung oder der Lehrer-Auftrag. Was weißt: Ich habe keine Ahnung, wie man es besser machen kann. Mit 53 Jahren sehe ich aber zumindest die vielen Widersprüche von Weihnachten – und kann mich durchaus damit anfreunden, denn: letztlich ist alles widersprüchlich.
Das zu akzeptieren bedeutet aber noch lange nicht, bestimmte Dinge einfach zuzulassen. „Das geht uns nichts an, dafür sind wir nicht zuständig. Haben wir keine anderen Probleme?“ sind die Totschlagargumente, die ich nicht nur als ehrenamtlicher Kommunalpolitiker so häufig höre. Und wenn man damit eine Diskussion nicht rigoros beenden kann, dann ist es die „Wahrheit“, die als absolutes Argument herhalten muss. Ich kann mit dem einen so wenig anfangen wie mit dem anderen.
Manchmal wehre ich mich vehement dagegen, manchmal nicht. Und ja, das ist ein Widerspruch.
Als Geschichtenerzähler liebe und brauche ich Widersprüche. Denn sie machen das Leben erst spannend. Das gilt bei mir in besonderer Weise für Weihnachten. Ich genieße den lauten Trubel im Kaufhaus und leise Spaziergänge im Wald. Ich werde ganz besinnlich beim Anblick einer traditionellen Krippe und juchze vor Begeisterung über Weihnachtskitsch. Ich höre „Adeste Fideles“ und klassische Kirchenchöre so gerne wie Wham und „Last Christmas“. Und ich glaube – herrlich naiv – ganz fest an die Geburt von Jesus als Gottes Sohn, ohne daraus irgendwelche Vorschriften für mein Weihnachtsfest abzuleiten.
Es gehört zum selbstverständlichen Widerspruch an Weihnachten, dass wir bei den zwei Jungs regelmäßig Bescheidenheit anmahnen – und alljährlich die eh schon üppigen Geschenke für den Nachwuchs in den zwei Wochen vor Heiligabend noch mindestens dreimal um weitere, kleine und große, Gaben ergänzen. Der Spaß daran überwiegt das schlechte Gewissen.
Der größte Widerspruch, in dem ich als Vater stecke, ist das Dilemma „Erziehung“. Ich sollte dem elterlichen Auftrag folgen und Vorbild sein, tauge aber überhaupt nicht dazu. Ich würde viel lieber applaudieren als schimpfen, wenn die Jungs Blödsinn machen. Dumm nur, dass sie das merken und meine Autorität zunehmend untergraben. Besonders schlimm wird es für sie, wenn ich versuche jugendlich zu sein. Und sollte ich jemals in Gegenwart ihrer Freunde einen „I bims“ sagen und dazu einen „Dab“ machen, werden sie sich selbst zur Adoption freigeben, sagen sie.
Die Jungs werden immer aufmüpfiger, das ist gut so. Wenn ich aber im Büro sitze und Noah höre, wie er auf seiner Gitarre „Junimond“ von Rio Reiser und ganz aktuell „Happy Christmas“ von John Lennon spielt, dann rede ich mir ein, dass ich nicht alles falsch gemacht habe. Und dass er einmal mit Merlin am Schlagzeug einen Song von Motörhead spielen wird, daran arbeite ich noch. Der Sänger der Band, der legendäre Lemmy Kilmister, ist übrigens an einem Heiligabend geboren und vergangenes Jahr nach 70 Jahren und vier Tagen gestorben.
Ich bin ein großer Fan von ihm, wegen der Musik und des Satzes, den er als ultimativen Ratschlag für das Leben formuliert hat: „Halte dich von den Idioten fern.“ Lemmy hatte zweifellos Ahnung.
Dieses Jahr ist Hermann Graf gestorben. Der Großvater meiner Jungs war ein lebendiger Widerspruch – und er war einfach grandios dabei! Er konnte dich wie kaum ein anderer in den Wahnsinn treiben und dich zugleich zum Lachen bringen. Er war stur, großherzig, zornig, lustig und alles andere auch: ein großartiger Erzähler und Humorist, ein echtes Prachtexemplar Mensch.
Ich vermisse dich, Hermann Graf, wie so viele andere Menschen, die in den vergangenen Jahren gestorben sind: Meine Eltern, meine Großeltern, Freunde … auch das gehört zu Weihnachten, dass man sich an sie erinnert. Und dabei bestenfalls schmunzelt.
So viele Widersprüche begleiten mein Leben, genügend Fehler gehören ebenfalls dazu. Und täglich nehme ich mir etwas vor, was ich nicht einhalten werde. Ich rege mich darüber nicht mehr so auf wie früher, denn: Warum sollte es jetzt plötzlich klappen? Vielmehr bin ich froh darüber, dass sich im Laufe der Jahre ein ziemlich bunter und widersprüchlicher Haufen von Menschen angesammelt hat, die ich liebe oder zumindest mag. Und tatsächlich: manche mögen mich auch.
Ich werde mir nicht mehr vornehmen und versprechen, sie alle bald zu treffen. Ich nehme es lieber, wie es kommt und freue mich über jede Gelegenheit. In jedem Fall aber werde ich auf alle, die mir wichtig sind, ob noch lebend oder bereits auf einer Wolke sitzend, an Weihnachten ein Glas Becherovka trinken.
Und ich werde in Gedanken mit euch allen auf ein neues Jahr 2018 anstoßen, das uns gerade wegen der Widersprüche nicht verzweifeln, sondern laut „Ein solcher Spaß!“ zum Leben rufen lässt.
Fröhliche und gesegnete Weihnachten!